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Im Protektorat Böhmen und Mähren - der rätselhafte Fall Franz Nüßlein

Prof. Dr. Daniel Koerfer


Franz Nüßlein (1907 - 2003) war ein kleiner deutscher Beamter, der nach seinen juristischen Staatsexamen vom Reichsjustizministerium in Berlin im Frühjahr 1939 nach Prag abgeordnet wurde, um nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch deutsche Truppen in der neu errichteten deutschen Protektoratsverwaltung mitzuarbeiten. Er geriet damit als junger Staatsanwalt, ab 1942 dann als Oberstaatsanwalt in einen besonders hoch durch NS-Brutalität kontaminierten Bereich, denn das Protektorat war "SS-Land". Hier liess der stellv. Reichsprotektor Reinhard Heydrich parallel zu seiner Tätigkeit als Chef des Reichssicherheitshauptamtes mit grosser Härte die tschechische Widerstandsbewegung niederwerfen und die Politik des Rassenwahns exekutieren. Nüßlein, wiewohl selbst kein Mitglied der SS, wurde hier Teil des deutschen Verwaltungsapparates.

1946 von den Siegermächten an die tschechischen Behörden ausgeliefert, wurde er 1948 vom Volksgerichtshof in Prag zu 20 Jahren Arbeitslager verurteilt, 1955 begnadigt und in die Bundesrepublik entlassen, wo er ins Auswärtige Amt wechselte. Schon bald häuften sich Anschuldigungen gegen ihn, wurde er als "Blutrichter", verantwortlich für mehr als 300 Todesurteile, präsentiert. Die Leitung des AA verteidigte ihn stets, allerdings ohne mit ihren Argumenten durchzudringen und versetzte ihn schliesslich als Generalkonsul nach Barcelona ins Spanien Francos. Als er 2003 starb, veröffentlichte das AA eine Todesanzeige, die ihm ein "ehrendes Gedenken" zusicherte.

Dagegen erhob sich Protest. Für den damaligen Aussenminister Joschka Fischer war die Todesananzeige für Franz Nüßlein und der Wirbel, den sie auslöste, der Grund, eine Historikerkommission einzusetzen, die die Verwicklung des Amtes in den NS-Massenmord erforschen sollte. Für Joschka Fischer und auch für die Kommission war und blieb Franz Nüßlein ein "NS-Täter" und "Blutrichter", zugleich ein Beleg für die braunen Kontinuitätslinien im Auswärtigen Amt der Nachkriegszeit. Aber was, wenn dieses Urteil nicht zutrifft, wenn es sogar falsch ist? Wenn dieser kleine rästelhafte "Fall Nüßlein" aus dem grossen Kapitel des Grauens anders gelesen und erzählt werden muss? Dann kann an ihm exemplarisch gezeigt werden, wie wichtig es ist, dass Historiker sorgfältig arbeiten und breit recherchieren, bevor sie ihre Urteile fällen, denn sie sprechen als Dolmetscher der Toten für jene, die sich nicht mehr selbst äussern können. Dieser Verantwortung müssen sie sich immer wieder neu stellen.